Täter oder Opfer?

„Rufen Sie da heute noch an“, sagte Frau Ahlers, unsere HR-Managerin für Führungskräfte. Wir saßen im Büro des Inhabers, die Entscheidung war gefallen, ich war meinen Job los. Wie konnte das passieren, dachte ich, ich hatte doch alles richtig gemacht, oder? Herr Müller, der Inhaber des Unternehmens, sah mich freundlich, aber bestimmt an und sagte: „Herr Acher, klären Sie bitte alles Weitere mit Frau Ahlers, aber ich bin selbstverständlich jederzeit ansprechbar, wenn es etwas zu regeln gibt“. Er gab mir freundlich die Hand, und ich ging wie betäubt aus dem Chefbüro und machte mich auf den Weg nach Hause. ‚Rufen Sie da heute noch an‘, klang es mir in den Ohren.

Als ich zuhause war, merkte meine Frau sofort, dass etwas nicht stimmte. Wir setzen uns, und ich erzählte, was passiert war. Sie war empört. „Das können Sie doch nicht mit Dir machen? Jahrelang schuftest Du für diese Firma, und dann das? Du musst Dich wehren. Sprich mit Deinem Anwalt. Wissen Deine Geschäftsführerkollegen schon Bescheid?“

„Das weiß ich nicht, aber ich nehme an, dass sie informiert sind. Schon die letze Sitzung kam mir ein wenig komisch vor. Jetzt, wo Du so fragst, wird mir das bewusst“.

Ich ging in mein Arbeitszimmer und rief unseren Anwalt an. „Guten Abend Peter, hast Du mal ne‘ Minute für mich?“ Seine tiefe ruhige Stimme war angenehm in dieser Situation. „Klar, Albert, was gibt es?“ Ich holte ein wenig Luft und antwortete: „Ich bin, mit Verlaub, gefeuert“.
„Was bist Du?“ fragte er ungläubig zurück. „Ja, Du hast richtig gehört, gefeuert“.
„Ich bin gerade noch im Gespräch. Komm morgen direkt zu mir. Warte mal, ich schaue in meinen Kalender. Kannst Du um 10:00?“
„Na klar, ich habe ja jetzt Zeit“.
„Ok, dann bis morgen“.

Ich griff nach dem Zettel, den mir Frau Ahlers gegeben hatte mit der Nummer des Coaches, mit dem Sie oft zusammenarbeitete. Es war jetzt halb neun. Konnte ich ihn so spät noch anrufen? Nun, sie hatte gesagt, ich solle heute noch anrufen. Ich wählte die Nummer, und es meldete sich eine angenehme Stimme. „Guten Abend Herr Acher, was kann ich für Sie tun?“  Ich erzählte kurz, was passiert war. Er reagierte sehr verständnisvoll, und bot mir an, dass wir über seine Coaching-Plattform schon am nächsten Tag ein ausführliches Gespräch führen könnten.  Das war natürlich besser, als  zwei Stunden im Auto zu sitzen und war mir sehr recht, denn je schneller sich die Situation klären ließ, umso besser.  Ich war jetzt 52, war es gewohnt, die Dinge in die Hand zu nehmen, und hatte schon viele kritische Situationen erlebt. Aber jetzt, jetzt ging es um mich. Das fühlte sich merkwürdig an. Natürlich hatte auch ich schon Mitarbeiter entlassen, und mich gefragt, wie diese sich wohl fühlen würden. Jetzt wusste ich es.

Es war früher Nachmittag, als wir unsere erste Online-Session hatten. Mehr als einen Internetzugang brauchte ich nicht, ja, und natürlich eine Kamera, aber die hat ja jedes Handy und jeder Laptop heutzutage. Das Gespräch mit meinem Anwalt hatte mich erst mal beruhigt. Das Finanzielle konnte man regeln, meine Ansprüche waren recht eindeutig, und das Gespräch mit dem Inhaber ließ hoffen, dass die Trennung fair ablaufen würde. Aber natürlich fühlte ich mich tief verletzt und ungerecht behandelt. Ich war sehr gespannt darauf, wie Herr Scholte, der Coach, die Situation beurteilen würde. Ich warf meinen Laptop an und wählte mich ein. Er begrüßte mich, wir tauschten ein paar Freundlichkeiten aus. Die Herbstsonne schien bei ihm durchs Fenster. Eigentlich ein schöner Oktobertag, den man auch anders genießen könnte.

Herr Scholte lächelte mich an und sagte: „ Erzählen Sie einfach erst einmal, was passiert ist“.

„Ja, das ist schnell erzählt. Ich wurde kurzfristig in das Büro des Inhabers gerufen. Normalerweise treffen wir uns immer am Freitagmorgen zum Jour fixe. Das kam mir schon merkwürdig vor. Und als ich Frau Ahlers sah, unsere HR-Managerin, war mir sofort klar, das wird kein einfaches Gespräch. Herr Camrath, der Inhaber, sah  mich freundlich, aber ernst an. Und dann sagte er, ich wüsste ja, dass die Reorganisation anstehe und er nun das Thema internationale Niederlassungen endlich lösen wolle. Er habe sich für die Dezentralisierung entschieden, was bedeute, dass hierfür kein Geschäftsführer mehr gebraucht würde. Die Verantwortung ginge auf die Niederlassungsleiter der Länder über. Man habe lange überlegt, wie man mich weiterhin im Unternehmen einsetzen könne, sei aber zu dem Schluss gekommen, dass es nichts Adäquates gebe, was man mir anbieten könne. Und so sei der Entschluss gefallen, sich von mir zu trennen. Es tue ihm leid, aber er sähe keine andere Möglichkeit. Und die Details der Trennung soll ich doch mit Frau Ahlers besprechen. Das ganze Gespräch habe keine Viertelstunde gedauert. Es war ihm unangenehm, und ich hatte den Eindruck, er wolle es ganz schnell hinter sich bringen.

Herr Scholte hatte aufmerksam zugehört. Dann begann er zu fragen. „Habe ich es richtig verstanden, dass Sie zentral weltweit für die Niederlassungen verantwortlich waren?“
„Ja“, sagte ich, „und zwar für Strategie und das operative Geschäft“.
„Wann begannen die Überlegungen zur Reorganisation?“
„Das war vor etwa einem Jahr. Mein Chef pflegte solche Themen gerne während eines Spaziergangs mit seinen Führungskräften zu besprechen. Da kämen auch die Gedanken in Bewegung, sagte er immer“.

„Ja, das stimmt. Wir setzen das manchmal auch ganz bewusst als Methode ein. Gottlieb Duttweiler, der Gründer der Migros in der Schweiz, schwörte auf diese Methode. Wie ging es weiter?“

“Wir besprachen die verschiedenen Möglichkeiten, die Vor- und Nachteile der Lösungen, aber wir kamen natürlich nicht sofort zu einem Ergebnis. Herr Camrath beauftragte mich dann mit der Ausarbeitung eines Strategiepapiers, in dem man verschiedene Modelle betrachten sollte. Erst dann wolle er darüber entscheiden. Ich habe dann ein solches Papier in den kommenden drei Monaten erarbeitet, auch die Meinung aller Beteiligten eingeholt und dann in einer Geschäftsführersitzung präsentiert. Es wurde ausgiebig darüber diskutiert, aber auch da sind wir zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Und dann ruhte der See erst mal still“.

„Ok, habe ich verstanden. Was haben Sie unternommen, um eine Klärung der Frage voranzutreiben?“
„Nun, ich habe abgewartet, wie sich mein Chef entscheidet und weiter meinen Job gemacht. Ich hatte schon ein ungutes Gefühl, dass die Sache so vor sich hin schmorte“.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie der für diesen Bereich verantwortliche Manager.“
„Ja, das stimmt. Ich habe dann, als lange nichts passierte, das Thema regelmäßig in unserem Jour fixe angesprochen. Aber Herr Camrath verschob es immer wieder auf den nächsten Termin. Bis ich ihm vor einigen Wochen die Gefahr aufzeigte, wenn wir zu lange warten würden. Dann ging plötzlich alles schnell. Offensichtlich hat er am Wochenende eine Entscheidung getroffen mit diesem Ergebnis für mich“.
Herr Schlote sah mich ernst an: „Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie hätten anders machen können und welchen Anteil Sie an der Situation haben, die jetzt eingetreten ist?“

Das war für mich eine völlig neue Fragestellung. Ich sollte mit dazu beigetragen haben, dass ich entlassen wurde? Was dachte sich dieser Coach eigentlich. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde mir, dass er recht haben könnte.
„Ich muss darüber nachdenken“, sagte ich. Wir verabredeten einen neuen Online-Termin. Ich musste das erst einmal verarbeiten.

Als wir uns erneut auf der Plattform trafen, hatte ich mit die Erwartung, es möge uns gelingen, diese Situation so aufzuarbeiten, dass ich sie nie wieder erleben würde. Wir begannen mit der Arbeit an meiner beruflichen Neuorientierung. Parallel liefen die Verhandlungen mit der Firma über den Aufhebungsvertrag, die erfolgreich abgeschlossen werden konnten und mir die Zeit gaben, in Ruhe die neue Position zu finden, in der ich noch heute tätig bin. Meinen Coach funke ich meistens einmal im Jahr an. Dann machen wir eine kleine Session online. Und wenn ich in unübersichtliche Situationen komme, hat er immer ein Ohr für mich. Das ist ein gutes Gefühl.

„Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie hätten anders machen können und welchen Anteil Sie an der Situation haben, die jetzt eingetreten ist?“
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